BAYERISCHE
VORGESCHICHTSBLÄTTER
Herausgegeben von der Kommission für bayerische Landesgeschichte
bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften
in Verbindung mit der Archäologischen Staatssammlung
und dem Bayerischen Landesamt für Denkmatpflege
Jahrgang 75
2010
Verlag C.H. Beck München
13/3
Schriftleitung: Prof. Dr. Alois Schmid und Prof. Dr. Rupert Gebhard
Geschäftsführung: Dr. Bernward Ziegaus, redaktionelle Mitarbeit: Dr. Gabriele Sorge
Geschäftsstelle: Archäologische Staatssammlung, Lerchenfeldstraße 2, 80538 München
(Postanschrift: Postfach 22 00 28, 80535 München)
Auslieferung: Verlag C.H. Beck, München
Bezugsbedingungen: Ab Jahrgang 49, 1984 beträgt der Einzelpreis für den Jahresband 68.- €; das Abonnement
kostet jährlich 57.- €. Von den früheren Jahrgängen der „Bayerischen Vorgeschichtsblätter“ sind noch lieferbar
55—74. Exemplare der Jahrgänge 52—54 werden zum Preis von 1.00 € zzgl. Porto und Verpackung abgegeben.
Bestellnng nnd Auslieferung der Restexemplare vor 1990 erfolgt nur über die Kommission für Bayerische Landesgeschichte, Alfons-Goppel-Straße 11, 80539 München, e-mail: post@kbl.badw.de.
Festschrift
fur
Die „Beihefte“ sind im Abonnement nicht inbegriffen; der Preis der einzelnen Bände richtet sich nach dem jewei
ligen Umfang. Erschienen sind bisher Beiheft 1, 1987 bis 19, 2008. Die Beihefte 1—2 werden zum Preis von 1.00 €
zzgl. Porto und Verpacknng abgegeben.
HERMANN DANNHEIMER
zum 80. Geburtstag
Vor- und frühgeschichtliche Beobachtungen und Funde sollen dem Bayer. Landesamt für Denkmalpflege, Abtei
lung Praktische Denkmalpflege: Bodendenkmäler, Hofgraben 4, 80539 München, Tel. (089) 2 11 4-0 mitgeteilt
werden, oder den Dienststellen der Abteilung Praktische Denkmalpflege: Bodendenkmäler
Klosterberg 8, 86672 Thierhaupten, Tel. (0 82 71) 8 15 70;
Burg 4, 90403 Nürnberg, Tel. (09 11) 2 35 85-0;
Adolf-Schmetzer-Straße 1, 93055 Regensburg, Tel. (09 41) 59 57 48-0;
Schloß Seehof bei Bamberg, 96117 Memmelsdorf, Tel. (0951)40950;
Unterer Graben 37, 85049 Ingolstadt, Tel. (08 41) 16 38.
Herausgegeben von
Auskunft und Beratung wird auch durch die Archäologische Staatssammlnng, Lerchenfeldstraße 2, 80538 München,
Tel. (0 89) 2 11 24 02 erteilt.
© 2010 by Kommission für bayerische Landesgeschichte
Rerstellung: Wißner-Verlag GmbH & Co. KG, Im Tal 12, 86179 Augsburg
ISSN 0341-3918
ISBN 978-3-406-11080-1
bti
204i, 3
Rupert Gebhard, Hans-Jörg Kellner, Alois Schmid und Ludwig Wamser
Zum Geleit
Hermann Dannheimer
Am 9. Dezember 2009 feierte Hermann Dannheimer seinen achtzigsten Gebnrtstag. Dieses
Jubiläum nehmen Freunde und Kollegen zum Anlass, ihn durch die in diesem Band zusam
mengestellten Beiträge zu erfreuen und zu würdigen.
Es gab für die Festschriftbeiträge keine inhaltlichen Vorgaben, die Themen wurden von
den Verfasserinnen und Verfassern passend zu den Arbeitsgebieten des Jubilars ausgewählt.
Sie spiegeln das breite wissenschaftliche Interesse von Hermann Dannheimer, der sich wäh
rend seiner Zeit in der Prähistorischen Staatssammlung von 1960 bis 1994 nicht nur um die
Mehrung, Bearbeitung und öffentliche Darstellung der frühmittelalterlichen, sondern stets
auch um die vorgeschichtliche, römische und mediterrane Sammlung mit großem Enthusias
mus kümmerte. Er tat dies immer vor dem Hintergrund, dadurch zugleich das Interesse der
Bevölkerung an der bayerische Landesgeschichte und Landesarchäologie in großem Umfang
zu wecken. Seine „Prähistorische Staatssammlung“ war für ihn eine ideale Bühne: Sonderausstellungen in München, die Landesausstellungen in Rosenheim und der intensive Ausbau
des Zweigmusenmsnetzes in ganz Bayern bezeugen dies bis heute. Diese Leistnngen wurden in
einer Vielzahl von öffentlichen Ehrungen und einer Festschrift seiner Mitarbeiter zum sieb
zigsten Geburtstag gewürdigt.
Es ist verständlich, dass bei der hier nur kurz skizzierten, intensiven Amtstätigkeit kaum
Platz zur Aufarbeitung seiner eigenen wissenschaftlichen Forschung blieb. Dies holte Hermann
Dannheimer seit seiner Pensionierung umso intensiver nach. Seit 1994 widmete er sich der
wissenschaftlichen Auswertung seiner Grabungen in den frühen bayerischen Klöstern Oberbay
ems und legte die Ergebnisse über die Anlagen in Sandau und Frauenchiemsee jeweils in
Monografien vor. Derzeit wertet er die umfangreichen Grabungen im Kloster Herrenchiemsee
aus, die die neuen Erkenntnisse zur frühen Klostergeschichte Altbayerns abermals beträcht
lich erweitern werden. Mit unermüdlichem Fleiß führte Hermann Dannheimer zugleich als
Schriftleiter die „Bayerischen Vorgeschichtsblätter“ fort. Durch die Auswahl und Redaktion
der Beiträge gelang es ihm, jeden Band so zu gestalten, dass die Zeitschrift in Fachkreisen weit
über Bayern hinaus zu den wichtigsten deutschsprachigen archäologischen Periodika gehört.
Es ist der Kommission eine Verpflichtung, ihm zur Beendigung seiner Tätigkeit als Schrift
leiter in Würdigüng seiner großen Verdienste einen eigenen Jahresband zu widmen, um ihm
den gebührenden Dank abzustatten.
Rupert Gebhard
Hans-Jörg Kellner
Alois Schmid
Ludwig Wamser
„Christliche Amulette“
Bemerkungen zu Glöckeben aus merowingerzeitliehen Gräbern
Mit 4 Abbildungen und Tafel 18—19
Von Dieter Quast, Mainz und Rotraut Wolf, Stuttgart
„Christliche Amulette“ das wirkt wie eine Antinomie, denn einem Amulett haftet immer
etwas Abergläubisehes an. Gerade in der Frühmittelalterarehäologie wird in Untersuchungen,
die sich mit der Christianisierung beschäftigen der vorchristliche Anteil in dieser Ubergangspe
riode gerne durch „Amulette“ illustriert, die sieh vorzugsweise in merowingerzeitlichen Frau
engräbern fanden. Sie sollten Unheil abwehren, Glück bringen bzw. positive Eigenschaften
verstärken und zwar aufgrund der ihnen innewohnenden Kräfte oder Eigenschaften. Im
Christentum hat ein solcher Glaube keinen Platz. Allerdings konnten Reliquien das Bedürfnis
nach apotropäiseben Objekten erfüllen, wenngleich sie im wesentlichen Unterschied zu den
Amuletten nicht aufgrund ihres Materials wirksam sein sollten, sondern dadurch, dass sie
Teil eines Heiligen waren oder mit einem solchen in Berührung gekommen waren. Zudem lag
ihre Wirksamkeit erst in ferner Zukunft, nämlich beim Jüngsten Gericht. Amulette hingegen
sollten unmittelbar ihren positiven Einfluss ausüben.
Einen festen Bestandteil merowingerzeitlicher Frauenkleidung in Süddeutschland, im Rhein
land, im nordöstlichen Frankreich, sowie in den Benelux-Staaten bildeten an der linken Seite
vom Gürtel herabhängende Schnüre oder Bänder mit daran befestigten Amuletten‘. Dabei
handelt es sieh um unterschiedliche Anhänger, etwa Bärenzähne, Gehäuse der Tigerschnecke
(Cypraea panthera), große Perlen und Wirtel, gefasste Bergkristallanhänger, Zierscheiben
oder unterschiedliche organische „Reste“, die in sogenannten Amulettkapseln aufbewahrt
wurden2. Häufig fanden sich an den Gürtelgehängen auch kleine Bronzeglöckchen. Sie waren
im gesamten Reihengräberkreis verbreitet, wie eine von R. Reiss erstellte Liste zeigt eine
Verbreitungskarte ist daher wenig aussagekräftig3. Der Jubilar hat diese Glöckchen randlich
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-n
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U. Koch, Das Reihengraberfeld bei Schretzheim. Germanische Denkmaler der Volkerwanderungszeit A 13
(Berlin 1977) 79 f.; B. Dübner-Manthey, Die Gürtelgehänge als Träger von Kleingeräten, Amuletten und Anhän
gern symbolischer Bedeutung im Rahmen der frühmittelalterlichen Frauentracht: archäologische Untersu
chungen zu einem charakteristischen Bestandteil der weiblichen Tracht. Diss.-Druck Freie Univ. Berlin 1987; R.
Reiss, Der merowingerzeitliche Reihengräberfriedhof von Westheim (Kreis Weißenburg-Gunzenhausen). Wiss.
Beibände zum Anz. Germ. Nat. Mus. 10 (Nürnberg 1994) 119—132.
2
II. Arends, Ausgewählte Gegenstände des Frühmittelalters mit Amulettcharakter. Diss.-Druck Ruprecht
Karls-Universität Heidelberg 1978; 1. Vida, Frühmittelaherliche scheiben- und kugelförmige Amulettkapseln
zwischen Kaukasus, Kastilien und Picardie. Ber. RGK 76, 1995, 219—290; B. Dübner-Manthey, Zum Amulett
brauchtum in frühmittelalterlichen Frauen- und Kindergräbern. In: W. Affeldt (Hg.), Frauen in Spätantike und
Frühmittelalter (Sigmaringen 1990) 65—87.
Reiss 1994 (Anm. 1) 415—417, hat eine Fundliste vorgelegt, die auch Exemplare aus Spanien, Italien und dem
mittleren Donauraum erfasst. Die vorliegende Studie beschränkt sich auf den „Reihengräberkreis“. Einige Nach
träge aus diesem Gebiet (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): Ophoven (Prov. Limburg, B) Grab 131 (Frauengrab): H. Roosens, Het merovingisch Grafveld van Ophoven. Archaeologica Belgica 196 (Bruxelles 1977) 63—67,
hier 66 Abb. 37,4.— Torgny (Prov. Luxemburg, B) Grab 157 (Frauengrab): L‘Or des Francs. Les Bijoux mroving
iens dans l‘espace Mense Moselle. Ausstellungskat. Thionville (Thionville 2006) 135. Cutry (D1p. Meurthe
et-Moselle, F) Grab 949 (Frauengrab): R. Legoux, La ncropole m&ovingienne dc Cutry (Meurthe-et-Moselle).
Mmoires publis par l‘Association franaise d‘Archäologie m&ovingienne 14 (Saint-Germain-en-Laye 2005),
338; Taf. 142,7.— Saint-Vit (Dp. Doubs, F) Grab 57 (Kindergrab): J.-P. Urlacher/F. Passard-Urlacher/S. Gizard,
Saint-Vit Les Champs Traversains Doubs N&ropole m6rovingienne, VP—VIP siäcle ap. J.-C. et enclos proto
historique, IXe_V sicle av. J.-C. Annales Littraires de l‘Universit de Franche-Comtä 839 (Besanon) 2008, 162
Abb. 223; 295 f.; Taf. 26,5. 7. Elgg (Kt. Zürich, CH) Grab 43 (Frauengrah): R. Windler, Das Gräberfeld von
Elgg und die Besiedlung der Nordostschweiz im 5.—7. Jh. Züricher Denkmalpfiege, Archäologische Monographien
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171
„Christliche Amulette“
Dieter Quast und Rotraut Wolf
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2
Abb. 2. Glöckchen-Typen aus merowingerzeitlichen Gräbern. 1 Typ 1 gegossen und nachgedreht. Sehretzheim
(Lkr. Dillingen) Grab 543; 2 Typ 2 gefaltet und vernietet. Eschborn (Main-Taunus-Kreis) Grab 16; 3 Typ 3
gerollt. Fridingen a. d. Donau (Lkr. Tuttlingen) Grab 260. M. 1:1.
2a
2c
Abb. 1. Glöckchen als Grabbeigaben. 1. Raucourt (Dp. Meurthe-et-Moselle, F) Grab 27. Detail der Perlenkette
mit Glocke; 2 Saint-Vit (D4. Douhs, F) Grab 57. Amulette. o. M.
in seiner Arbeit zu den altbairischen Eisengloeken behandelt und resümierend erwogen, „ob
die entsprechenden Glöckchen nicht als Amulette christlichen Charakters gedeutet werden
können“. Er stellte sich damit gegen die Forschungsmeinung, denn die sah die Glöekchen stets
als Zeichen vorehristlicher Vorstellungen. Interessanterweise wurden derartige Amulette aber
erst während der Christianisierung im 7. Jahrhnndert häufiger verwendet und einige ähneln
den weit größeren Kirchenglocken.
Die Glöekchen fanden sich ausschließlich in Mädchen- oder Franengräbern. Relativ selten
waren sie auf eine Perlenkette aufgefädelt, etwa in Ophoven (Prov. Limburg) Grab 131, Torgny
(Prov. Luxemburg) Grab 157, Raucourt (Dp. Meurthe-et-Moselle) Grab 27 (Abb. 1,1) und
Saint-Vit (Dp. Doubs) Grab 57 (Abb. 1,2). Diese Trageweise ist anscheinend auf den nord13 (Zürich 1994) 99 f. mit Anm. 752; Tal. 19,3. Altenerding (Lkr. Erding) Grab 1098 (Kindergrab): W. Sage,
Das Reihengräberfeld von Altenerding in Oberbayern 1. Germanische Denkmäler der Völkerwanderungszeit A 14
(Berlin 1984) 271; Taf. 136,5. — Straubing Grab 603 und 604 (Frauengräber): H. Geisler, Das frühbairische Grä
berfeld Straubing-Bajuwarenstraße. 1: Katalog der archäologischen Befunde und Funde. Internat. Archäologie
30 (Rahden 1998) 213 ff.; Taf. 209,7; 210,11.
‚
H. Danuheimer, Frühe Eisenglocken aus Altbaiern. BVbl. 67, 2002, 147—162, hier: 162.
s. Ophoven, Torgny und Saint-Vit (Anm. 3).— Rauconrt: X. Delestre (Hg.), Lorraine m&ovingienne (V—VIIY
sicle). Ausstellungskat. Metz (Metz 1988) 67 Abb. 33.
—
ostgallischen Raum begrenzt, doch ist dort, wie auch im Rheinland und in Süddeutschland,
ebenso die häufiger zu beobachtende Anbringung der kleinen Schellen am Gürtelgehänge nach
zuweisen. Chronologisch sind die meisten Gräber dem 7. Jahrhundert zuzuweisen, doch sind
beispielsweise aus Torgny (Prov. Luxemburg) Grab 157, Coutry (Dp. Meurthe-et-Moselle,
F) Grab 949, Saint-Vit (Dp. Doubs) Grab 57 und Müngersdorf (Stadt Köln) Grab 91b auch
einige Bestattungen des 6. Jahrhunderts bekannt6. Soweit die Glöckchen aus gut dokumen
tierten Gräbern überliefert sind, zeigt sich ein breites Spektrum bezüglich des „Reichtums“
der Bestatteten. In Lavoye (Dp. Meuse) Grab 224 stellt eine kleine Glocke die einzige Beigabe
dar, Kirchheim am Ries (Ostalbkreis) Grab 326 hingegen gehört zu den reichen Frauengrä
bern der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts7.
Drei unterschiedliche Glöckchen-Typen sind in den merowingerzeitlichen Gräbern nachzu
weisen, nämlich gegossene und anschließend nachgedrehte Exemplare (‘Abb. 2,1), aus Blech
gefaltete und vernietete Exemplare (Abb. 2,2) und aus Blech gerollte Exemplare (‘Abb. 2,3).
Leider sind die Typen weder chronologisch noch regional aussagekräftig. Bei den kleinen
gegossenen Exemplaren (Abb. 2,1) handelt es sich aber zumeist um römische Produkte5, also
um „Archaika“. Sie müssen aus Begehungen römischer Fundstellen stammen. Die Tatsache,
dass zumeist nur ein einzelnes Exemplar pro Grab vorkommt, unterstreicht die Annahme,
dass es sich um Ahfunde handelt, ebenso der Herstellungsprozess. Die gegossenen Glöckehen
wurden nachgedreht, ein Vorgang, der sich an merowingerzeitlichen Bronzen bislang nicht
nachweisen lässt, aber am sog. koptischen Bronzegeschirr angewendet wurde9. Unklar ist, ob
6
s. Torgny, Coutry und Saint-Vit (Anm. 3). —Müngersdorf: F. Fremersdorf, Das fräukische Reihengräberfeld
von Köln-Müngersdorf. Germ. Denkmäler der Völkerwanderungszeit A 6 (Berlin 1955) Taf. 16,19 u. Taf. 47.
R. Joffroy, Le cimeti&e dc Lavoye. neropole mrovingienne (Paris 1974) 123; Tuf. 24; Chr. Neuffer-Müller,
Der alamannische Adelsbestattungsplatz und die Reihengräberfriedhöfe von Kirchheim am Ries (Ostalbkreis).
Forschungen und Berichte zur Vor- und Frühgeschichte in Baden-Württemberg 15 (Stuttgart 1983) 173; Taf. 59,
23.
1
So schon Reiss 1994 (Anm. 1) 131. Zu römischen Glöckchen: B. Päffgen, Die Ausgrabungen in St. Severin
Kölner Forschungen 5 (Mainz 1992) 248.
Köln.
zu
Vgl. P. Eichhorn/B. Urbon, Rekonstruktionsversuch der Gusstechnik im Wachsausschmelzverfahren. In: P.
Paulsen/H. Schach-Dörges, Das alamannische Gräherfeld von Giengeu an der Brenz. Forschungen und Berichte
zur Vor- und Frühgeschichte in Baden-Württemberg 10 (Stuttgart 1978) 53—57. Zum koptischen Bronzegeschirr
zuletzt J. Drauschke, Zwischen Handel und Geschenk Studien znr Distribution von Objekten aus dem Orient,
aus Byzanz und aus Mitteleuropa im östlichen Merowingerreich. Freiburger Beitr. zur Archäologie und Geschichte
des ersten Jahrtausends 14 (Hahden/Westf., im Druck). Vgl. bis dahin ders., Zur Herkunft und Vermittlung
—
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diese Glöckehen überhaupt noch funktionstüchtig waren, oder ob sie ähnlich wie beispiels
weise blaue latnezeitliche Glasarmringfragmente hauptsächlich als „exotische Altfunde“ von
Bedeutung waren‘°. Im Kindergrab 57 aus Saint-Vit (Dp. Doubs, F) war der Klöppel nach
träglich ersetzt worden (Abb. l,2a), doch ist der Zeitpunkt dieser Reparatur unbekannt. Eine
identische Flickung findet sich an einem Glöckehen aus einem frühchristlichen Grab aus dem
syrischen Gadara (Taf 19,lb)11.
Der zweite Typ, die gefalteten und vernieteten Glocken (Abb. 2,2) sind teilweise ebenfalls
römischen Ursprungs. wie zuletzt II. Ament bei der Diskussion des Exemplars aus Esch
born (Main-Taunus-Kreis) Grab 16 dargelegt hat‘2. Die Bestattung ist bereits in die Mitte des
5. Jahrhunderts datiert, also deutlich früher als diejenigen mit gegossenen Schellen. Eine
technische Besonderheit unterstreicht die Annahme einer römischen Produktion: das Eisen
blech weist einen Kupferüberzug auf. Es handelt sich bei der Glocke aus Eschborn allerdings
aufgrund der Größe und der Befundsituation sie lag zusammen mit den Gefäßen am Fußende
des Grabes nicht um ein am Gehänge getragenes Amulett-Glöckchen. Vielmehr wurde eine
römische Viehglocke beigegeben‘3. In diesem Sinne ist auch eine wohl in das frühe 5. Jahrhun
dert zu datierende Bestattung aus der Siedlung in Trmice-Usti nad Labem (CR) mit römischer
Eisenglocke zu werten14.
Die gefalteten Glocken sind im Gegensatz zu den gegossenen, nachgedrehten relativ einfach
herzustellen und daher auch in nachrömischer Zeit vielerorts angefertigt worden, wie bei
spielsweise die irischen Handglocken zeigen, aber auch das ahbairische Stück aus Ramsach
(Lkr. Garmiseh-Partenkirchen)“.
Den „simpelsten“ Typ stellen zweifellos die aus Blech gerollten Glöckchen dar (Abb. 2,1). Sie
sind sicher merowingerzeitliehe Produkte. In einem der reichsten Gräber des Friedhofes von
Fridingen (Lkr. Tuttlingen) ans dem frühen 8. Jahrhundert waren an einer Gürtelkette aus
Eisen zusammen mit einigen Glasperlen mindestens 19 aufgerollte Bronzebleehe mit Eisen
klöppeln befestigt (Abb. 3). Einen besonderen Wohlklang werden sie kaum erzeugt haben,
doch haben sie zweifellos Geräusche verursacht und das war für die Unheil abwehrende Wirkung ausschlaggebend‘6.
Die Herleitung der Glöckehen aus dem römischen bzw. mediterranen Raum ist augenfäl
lig, denn bei den meisten Exemplaren handelt es sich um Produkte ans diesen Gebieten. Es
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„Christliche Amulette“
Dieter Quast und Rotraut Wolf
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„byzantinischer Importe“ der Merowingerzeit in Nordwesteuropa. In: 5. Brather (Hg.), Zwischen Spätantike
und Frühmittelalter. Archäologie des 4. bis 7. Jahrhunderts im Westen. Ergänzungsbände zum Reallexikon der
Germanischen Altertumskunde 57 (Berlin, New York 2008) 367—423, hier: 405 f.
‚
A. Mehling, Archaika als Grabbeigaben. Studien an merowingerzeitlichen Gräberfeldern. Tübinger Texte,
Materialien zur Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie 1 (Rahden 1998).
‚
Th. Weber, Ein frühchristliches Grab mit Glockenketten zu Gadara in der syrischen Dekapolis. Jahrb. der
österreichischen Byzantinistik 42, 1992, 249—285 hier: 263 mit Abb. 5,1. Zu dem Grab vgl. unten 5. 176.
12
H. Ament, Das alamannische Gräberfeld von Eschborn (Main-Taunus-Kreis). Materialien zur Vor- und
Frühgesch. Hessen 14 (Wiesbaden 1992)38 f.; Taf. 7,5.
13
Ament 1992 (Anm. 12) 60—62 mit Abb. 18,2.
14
A. Reszczyfiska, PohFeb z doby stähoväni n,irodfi na sidliiti Trmice-Usti nad Labem v kontextu obdohnfth
nlilezü [Eine Bestattung aus der Völkerwanderungszeit im Raum der Siedlung Trmice-Usti nad Labem im Kon
text ähnlicher Befunde]. In: E. Droberjar/B. Komordczy/D. Vachtitovd (Hg.), Barbarskd sidliit (Archeologie
barbarfi 2007) (Brno 2008) 233—241, bes. 235 Abb. 1,2.
15
Dannheimer 2002 (Anm. 4) 147 f. Nr. 1 mit Abb. 1; 157 Abb. 5; Taf. 17.
16
A. von Schnurbein, Der alamannische Friedhof bei Fridingen an der Donau (Kreis Tuttlingen). Forschungen
und Berichte zur Vor- und Frühgeschichte in Baden-Württemberg 21 (Stuttgart 1987) 71, Taf. 65; L. Pauli, Kel
tischer Volksglaube. Amulette und Sonderbestattungen am Dürrnberg bei Hallein und im eisenzeitlichen Mit
teleuropa. Münchner Beitr.Vor- und Frühgesch. 28 (München 1975) 116 f.; M. Trumpf-Lyritzaki, „Glocke“. In:
Reallexikon für Antike und Christentum 11 (Stuttgart 1981) 164—196; R. Perkmann, „Glocke“. In: Handwör
terbuch des Deutschen Aberglaubens 3 (Berlin, Leipzig 1930/31) 868—876; L. Hansmann/L. Kriss-Rettenbeck,
Amulett und Talisman. Erscheinungsform und Geschichte (München 21977) 250.
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1t
10$
10$
Grab26O
Abb. 3. Fridingen a. d. Donau (Lkr. Tuttlingen). Grab 260. Teile der eisernen Gürtelkette mit gerollten
Bronzeblechglöckchen. M. 1:3.
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ist daher auch wahrscheinlich, dass die damit verbundenen Amulett-Vorstellungen übernom
men wurden. Auffällig ist dennoch, dass eine zeitliche Lücke zwischen den römer- und mero
wingerzeitlichen Schellen klafft, die erst in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts populär
werden. Es gibt zwar einige völkerwanderungszeitliche Frauengräber aus der ersten Hälfte
des 5. Jahrhunderts, die mit Glöekchen ausgestattet sind, beispielsweise in Smohn in Mähren
oder Lezonx in der Anvergne, doch stellen auch diese weder eine räumliche noch eine zeit
liche Verbindung zu den merowingerzeitlichen dai7. Es ist daher zu vermuten, dass die Uber
17
J• Tejral, Mähren im 5. Jahrhundert. Die Stellung des Grabes XXXII aus Smolin im Rahmen der donauländischen Entwicklung zu Beginn der Völkerwanderungszeit. Studie Archaeologickho Ustavu Ceskoslovensk
Akademie VM v Brn 1973/3 (Praha 1973) 41; 81 Abb. 5,5 (mit weiteren Beispielen, die er überzeugend von sar
matischen Vorbildern ableitet); H. Vertet/Y. Duterne, Tombes m&ovingiennes du cimetire Samt-Jean de Leoux
1
174
nahme erst im 6. Jahrhundert erfolgte. ohne dass erkennbar wird, wo. Es gibt frühchristliche
Belege aus dem Mittelmeergebiet, die aber nicht präzise zu datieren sind18. Denkbar ist aber,
dass derartige Glöckchen als Amulette in Gebieten vorkamen, in denen beigabenlos bestattet
wurde. Ihr Vorkommen in einigen Schatzfunden aus dem östlichen Mediterraneum bestätigt
diese Annahme (Taf 18,1—3).
In diesem Kontext sei auf einige Pferde- und Reitergräbcr der Merowingerzeit hingewie
sen, die Glocken enthielten‘9. Gerade die halbkugeligen Bronzeglocken, die beispielsweise aus
Niederstotzingen (Lkr. Heidenheim) Grab 3c bekannt sind, gleichen typologisch den kleinen
gegossenen und nachdrchten Exemplaren aus Frauen- und Kindergräbern. Die Niederstot
zinger Glocke stellt einen Import aus dem Mittelmeergebiet dar, wie bereits Hermann Dann
heimer anhand guter Vergleichsfunde aufzeigen konnte20.
Um zur eingangs formulierten Frage der „christlichen Amulette“ zurück zu kommen, sind
die Kombinationen interessant, in denen sich die Glöckchen fanden. Im bereits erwähnten
Grab 27 von Raucourt (Dp. Meurthe-et-Moselle) war ein Exemplar gemeinsam mit zwei
Donar-Amuletten auf eine Perlenkette aufgefädelt (Abb. 1,1). Das Grab ist zwar nur unvoll
ständig publiziert, doch deuten die trommelförmigen Knochenperlen und die beiden Beinan
hänger zumindest auf eine Datierung in die ältere Merowingerzeit21. In das letzte Drittel des
6. Jahrhunderts ist Grab 57 aus Saint-Vit (Dp. Doubs) datiert, das u.a. einen Kreuzanhänger
enthielt (Abb. 1,2)22. In christlichem Kontext ist zweifellos auch das in einer Kirche angelegt
Grab 7 aus dem belgischen Arlon (Prov. Luxemburg) zu sehen, das in das frühe 7. Jahrhun
dert gehört23. Diese Vorkommen in vermeintlich paganen oder christlichen Kontexten werden
in der Forschung gerne als Ausdruck eines Synkretismus beschrieben, der allerdings eher
in einem Nebeneinander unterschiedlicher Symbole gesehen wird, als in einer Vermischung
zuvor klar abgegrenzter Religionen als Basis für etwas Neues.
Es ist auffällig, dass sich auch bei den oben erwähnten Glocken aus Pferde- bzw. Reitergrü
bern ein Wandel oder zumindest ein Nebeneinander heidnischer und christlicher Zusammen
hänge andeutet. Natürlich sind Pferdegräber nur in einem vorchristlichen Bezugsrahmen zu
sehen, und die Glocken, die diese Tiere trugen, haben sich dieser klaren Deutung unterzu
ordnen2‘. Es gibt aber eine Darstellung auf einer Pressblechscheibenfibel, die einen Reiter
mit Heiligenschein zeigt, hinter dessen Kopf zusätzlich ein Kreuz zu erkennen ist. Das Pferd
auf dieser Fibel aus Oron-le-Chätel „La Copelenaz“ (Kt. Vaud, Schweiz) trägt eindeutig eine
(Pny-de-Döme). In: L‘Auvergne de Sidoine Apollinaire 5 Grgoire de Tours. Publications de l‘Institut d‘Etudes dn
Massif Central 14 (Clermont-Ferrand 1999) 337—349, bes. 341 Abb. 4,4.
Vgl. Anm. 28.
19
R. Heiss, Reiter, Pferd und Glocke im Spiegel frühmittelalterlicher Grabfunde. Acta Praehistorica et Archae
ologica 25, 1993, 272—288.
20
Dannheimer 2002 (Anm. 4)158—160 mit Taf. 16. Weitere Beispiele aus dem östlichen Mittelmeerraum: D.
B6nazeth, L‘Art du Mtal an dbnt de I‘Ere Chr&ienne (Paris 1992) 243 f. (Elefantine; ohne Fundort).
21
U. Koch, Das alamannisch-fränkische Gräberfeld bei Pleidelsheim. Forschungen und Berichte zur Vor- uud
Frühgeschichte in Baden-Württemberg 60 (Stuttgart 2001) 236 f., 239. Zu den Donar-AmLiletten vgl. J. Werner,
Herkulcskeule und Donar-Amulett. Jahrb. RGZM 11, 1964, 176—194; R. Noll, Zwei römerzeitliche Grabfunde aus
Rumänien in der Wiener Antikensammlung. Mit einem Exkurs: Goldene Herkuleskeulen. Jahrb. RGZM 31, 1984,
435—454.
22
J.-P. Urlacher/F. Passard-Urlacher/S. Gizard, Saint-Vit Les Champs Traversains
Doubs
N&ropole
m&ovingienne, VI—VIF si5cle ap. J.-C. et enclos protohistoriqne, IX_Ve si5cle av. J.-C. Annales Litt5raires dc
l‘Universit de Franche-Comt5 839 (Besanon 2008) 236 («Horizon F 2) 246.
23
H. Roosens/J. Alenus-Lecerf, S*pultures m6rovingiennes au Vieux cimetiSre d‘Arlon. Archaeologia Belgica
88 (Bruxelles 1965) 43 mit Abb. 24,15.
24
J Oexle, Merowingerzeitliche Pferdebestattungen Opfer oder Beigaben? Frühmittelalterliche Studien 18,
1984, 122—172.
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„Christliche Amulette“
Dieter Quast und Rotraut Wolf
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Abb. 4. Oron-le-Chätel „La Copelenaz“ (Kt. Vaud, CH). Scheibenfibel. Pferd mit Glocke um den Hals. o. M.
Glocke um den Hals (Abb. 4), worauf bereits Robert Reiss hingewiesen hat25. Auch in diesem
Fall ist die Glocke dem Bezugsrahmen nämlich christlich unterzuordnen.
Dennoch spielten Glöckchen zweifellos bereits in vorchristlicher Zeit eine wichtige Rolle in
Kulthandlungen26. Gerade im privaten Bereich wurden sie häufig genutzt. Der Erzbischof von
Konstantinopel, Johannes Chrysostomos (344—407), verdammte die nicht offiziellen Rituale,
besonders jene, die von Frauen in ihren Häusern durchgeführt wurden. In diesem Kontext
nennt er auch den Brauch, Kindern Glöckchen um die Handgelenke zu binden, um sie vor
bösen Geistern zu schützen27.
Einige Armringe mit kleinen Schellen belegen diesen Brauch auch archäologisch. Einfachere
Varianten, etwas aus einem spätrömisch-frühbyzantinischem Grab aus Abila (Jordanien)
(Taf 18,3), aus den ägyptischen Fundorten Antinog, Illahun und Gurob wurden aus Bronze
gefertigt2t. Ein prächtigeres, goldenes Exemplare stammt aus einem aus dem Kunsthandel
angekauften Schatzfund angeblich aus dem „Großraum Ostanatolienllrak“ (Taf 18,1). Die
Schlussmünzen der 38 Solidi dieses Schatzes bilden Prägungen der Kaiser Constans II. und
Constantin IV. Sie bieten einen terminus post quem von 65429. Ein weiterer goldener Armring
aus „Nord-Syrien“ befindet sich in de Dumbarton Oaks Collection (Taf 18,2)°.
Gerade im östlichen Mittelmeerraum sind Glöckchen als Beigaben aus römerzeitlichen und
frühchristlichen Gräbern bekannt, etwa in Dura Europos (Syrien), Petra, Pella, Grab 39A
und Dhat-Ras (Jordanien), Tarshiha, el-Bassa, Jerusalem und am Mount Nebo (alle in Paläs
tina) aber auch aus Agypten3t. In Gräberfeldern der südlichen Krim treten seit dem 5.16. Jahr—
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25
J Baum, La scuipture figurale en Europe 5l‘poque m&ovingienne (Paris 1937) Taf. 17,46; Reiss 1993 (Anm.
19) 283 ff. mit Abb. 15—18 (mit zwei weiteren Beispielen); Heiss 1994 (Anm. 2) 39 mit Abb. 10.
26
H. Marti, Zwischen Hömerzeit und Mittelalter. Forschungen zur frühmittelaherlichen Siedlungsgeschichte
der Nordwestschweiz (4.—10. Jahrhundert). Archäologie uud Museum 41 (Liestal 2000) 76 (mit weiterer Lit.).
27
In Epistolam 1 ad Corinthios XII,7. Vgl. Weber 1992 (Anm. 11) 267 mit Anm. 47.
25
J J Davis, Abila Tomb Excavations: 1984. Near East Archaeological Society Bulletin 24, 1985, 64—92, bes.
79—81 mit Abb. 9; Bnazeth 1992 (Anm. 20) 202; W. M. Flinders Petrie, Amulets, illustrated by the Egyptian
Collection in Uuiversity College London (London 1914, reprint 1994) 28 Nr. 124, Taf. 15,124.
29
Jahrh. HGZM 41, 1994, 658 mit Abb. 97 (M. Schulze-Dörrlamm).
30
M. C. Ross, Catalogue of the Byzantine and Early Medieval Antiquities in the Dumbarton Oaks Collection.
II: JeweLlery, Enamels, and Art of the Migration Period (Washington 1965) 44 Nr. 45, Taf. 36.
31
Sämtliche Nachweise bei Weber 1992 (Anm. 11) 266 f. mit Anm. 41—43. —Zu Pella vgl. A. McNicoll/H. H.
Sinith/B. Hennessy, Pella in Jordan 1 (Canberra 1982) 91 Nr. 77, Taf. 28d. Zu Agypten vgl. Flinders Petrie 1994
(Anm. 28) 28 Nr. 124, Taf. 15,124.
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T
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Dieter Quast und Rotraut Wolf
„Christliche Amulette“
hundert mediterrane Glöekchen in großer Zahl auf32. In Rom finden sieh Glöekchen im Mörtel
der Katakombengräber eingedrückt33. Auch wenn dies ebenso wie die in anderen Gräbern
eingepressten Münzen oder Elfenbeinplättchen „als Erkennungszeichen für die Besucher
des Grabes zu verstehen ist“34, so zeigt es, dass während der Bestattung, bzw. beini Schließen
der Kammer Angehörige mit Glöckchen vor Ort waren, und diese wohl auch läuteten.
Ein aus dem Rahmen fallender Befund wurde im syrischen Gadara untersucht. In der als
Vorhalle des intra muros gelegenen Hypogäums angelegten Krypta, die in die byzantinische
Basilika einbezogen wurde, deckte man 1988 ein Steinplattengrab (Grab 12) auf, das als Beigaben u. a. zwei mit Glocken behangene Bronzeketten enthielt33. Insgesamt fanden sich Ske
lettrcste von elf Individuen, so dass unklar ist, ob die beiden, am Fußende niedergelegten
Glockenketten einem Mann oder einer Frau zuzuweisen sind. An der ersten Kette waren vier
Glöckchen befestigt (Taf 19,1), an der zweiten sechs Glöckchen, drei verzierte Beinperlen und
eine glatte, unverzierte Bronzeperle (Taf 19,2). Die Glöckchen waren mit 7,5—8,5 cm relativ
groß. Th. Weber hat für die Interpretation dieser Bestattung archäologische und schriftliche
Quellen verknüpft36. Aus hagiographischen Schriften ist bekannt, dass Straftäter und christ
liche Glaubenszeugen auf dem Weg vom Gefängnis zur Richtstätte einer öffentlichen Schaustellung und Verspottung ausgesetzt wurden und dabei vereinzelt Glocken um den Hals tragen
mussten. Die beiden Glockenketten aus dem Grab von Gadara sieht er in einem solchen Kon
text. Da der Ort der Bestattung die Krypta einer byzantinischen Basilika einen „gewöhn
lichen“ Kriminellen ausschließt, denkt er an einen Märtyrer der mit den „Sehandgiocken“
als Zeichen seines Martyriums beigesetzt wurde. Die Beigaben geben in diesem Fall also auch
einen Hinweis auf rechtliche Aspekte des frühchristlichen Lebens im östlichen Mittelmeer
raum37.
Von den „Schandglocken“ und den Unheil abwehrenden Schellen muss im Verlauf der fol
genden Jahrhunderte ein langsamer, aber grundlegender Bedeutungswandel erfolgt sein. Vom
10. bis zum 11. Jahrhundert trugen die Päpste in Rom Glöckchen am Saum ihrer Gewänder38.
Offiziell bezogen sie sich damit auf die Kleidung des Hohepriesters aus dem „Exodus“ (2. Buch
Mose / Exodus 28.33—34; 39.22—26), doch zeigt sich darin eher, dass das einst von den Kir
chenvätern verdammte Glöckehen aufgrund seiner anscheinend festen Verankerung in der
Vorstellungswelt der damaligen Menschen ins christliche Milieu integriert wurde39. Vergleich
bare Rezeptionen sind mehrfach bekannt, sowohl bei „öffentlichen“ Symbolen, als auch bei
Amuletten, die wie z. B. die Glöckchen Attribute häuslicher, privater Kulte waren40. Das noch
häufig anzutreffende duale Bild frühmittelalterlichen Glaubens (christlich vs. heidnisch) ist
nicht geeignet, diese religiöse Umbruchzeit zu beschreiben. Es flossen durchaus unterschied
liche, wenn auch eher kleine Elemente vorchristlicher und abergläubischer Vorstellungen
in das Christentum mit ein. Insofern können die Glöckchen durchaus als verchristlichte
Amulette bezeichnet werden.
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Abbildungsnachweis
Abb. 1,1: nach: Delestre 1988 (Anm. 5) 67 Abb. 33;Abb. 1,2: nach: Urlaeher/Passard-Urlaeher/Gizard, 2008
(Anm. 22) 162 Abb. 223 und Taf. 26,5; Abb. 2,1: nach: Koch 1977 (Anm. 1) Taf. 139,10; Abb. 2,2: nach: Ament
1992 (Anm. 12) Taf. 7,5; Abb. 2,3; 3: nach: von Sehnurbein 1987 (Anm. 16) Taf. 65; Abb. 4: nach: Reiss (1994)
(Anm. 1) 39 Abb. 10.
Taf. 18,1: Foto V. Iserhardt, RGZM; Taf. 18,2: nach: Ross 1965 (Anm. 30) Taf. 36; Taf. 18,3: nach: Davis 1985
(Anm. 28) 77 Abb. 9; Taf. 19: nach: Weber 1992 (Anm. 11) 262 Abb. 5 und Taf. 3.
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32
A. 1. Ajbabin/t. A. Chajredinova, Das Gräberfeld beim Dorf LuHstoe. Band 1: Ausgrabungen der Jahre
1977, 1982—1984. Monogr. RGZM 83 (Mainz 2009) Tal. 10—12; 14; 34—35; 45; 50; 68; 120; 136; 145; 150; 154;
159; 166; 168; 174. Die dort vorgelegten Datierungen erscheinen mir zumindest in einigen Fällen diskutierbar zu
sein, denn aus mitteleuropäischer Sieht erscheinen sie zu jung.
L. von Matt/E. Josi, Frühehristliches Rom (Würzburg 1961) IV Abb. 17—18. Vgl. Weber 1992 (Anm. 11)
266.
von Matt/Josi 1961 (Anm. 33) XIV Nr. 15—18.
Zun3 folgenden vgl. Weber 1992 (Anm. 11).
36
Weber 1992 (Anm. 11) 272 f.
Vergleichbare Hinweise wurden in der Forschung bislang nur selten erfasst. Interessante Ergebnisse erzielte
vor kurzem bei der Untersuchung von Pflugseharen aus merowingerzeitliehen Gräbern J. Henning, „Heiße Eisen“
der frühen Reehtsgesehiehte. Pflugsehare als Grabbeigaben in der Merowinger- und Karolingerzeit. In: H. Brink
Kloke/K. H. Deutmann (Hg.), Die Herrschaften von Asseln. Ein frühmittelalterliehes Gräberfeld am Dortmun
der Heliweg (München 2007) 109—114.
is P. E. Schramm, Herrschaftszeichen und Staatssymbolik. Schriften der MGH 13/2 (Stuttgart 1955) 555; H.
Fiehtenau, Lebensordnung des 10. Jahrhunderts. Studien über Denkart und Existenz im einstigen Karolinger
reich (München 1992) 421.
H. Maguire, Magie and Money in the Early Middle Ages. Speeuluin. A Journal ofMedieval Studies 72, 1997,
1037—1054. hier: 1038 f.
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40
Vgl. allgem. Lexikon der christlichen Ikonographie (Rom, Freiburg, Basel, Wien 1990); Maguire 1997 (Anm.
39); A. Lennartz, Tradition und Wandel paganer Amulettbräuehe in Mitteleuropa zwischen Antike und Frühem
Mittelalter. In: U. von Freeden/H. Friesinger/E. Wamers (Hg.), Glaube, Kult nnd Herrschaft. Phänomene des
Religiösen im 1. Jahrtausend n.Chr. in Mittel- und Nordeuropa. KVF 12 (Bonn 2009) 253—260, bes. 258.